Clare Allan: Poppy Shakespeare
Bis zu dem Tag, als Poppy Shakespeare einen Eignungstest absolviert, ist ihr Leben eigentlich in Ordnung. Gut – sie hat sich gerade von ihrem Lebensgefährten getrennt und ist momentan arbeitslos und pleite. Vielleicht ist sie auch etwas zu explosiv und eigenwillig. Nichts, was den einen oder anderen von uns ebenfalls auszeichnet. Durch den Test wird jedoch eine massive Persönlichkeitsstörung festgestellt und Poppy sieht sich ruck-zuck in die nächstgelegene Irrenanstalt eingeliefert. Herzlich Willkommen in der Dorothy Fish, einer Tagesklinik im Norden Londons!
„Das Abbadon ist ein massiver roter Turm. Im ersten Stock liegt die Dorothy-Fish-Tagesklinik, darüber stapeln sich wie Kommodenschubladen die Abteilungen für stationäre Patienten. Keiner weiß, wie hoch der Turm ist, aber eins weiß man: Je verrückter man ist, desto höher das Stockwerk, und wenn man gesünder wird, schleusen sie einen durch die Stockwerke wieder runter. Je tiefer man kommt, desto mehr darf man machen.“
Als Poppy gegen ihren Willen eine Probezeit von vier Wochen in der Anstalt absitzen muss, versucht sie zunächst alles, um aus dem Haus der Bekloppten wieder hinaus zu kommen. Doch Poppy hat schlechte Karten: Kein Geld für den einzigen Anwalt, der Verrückte vertritt, sämtliche Freunde schauen, dass sie mit ihr nichts mehr zu tun bekommen. Um an Geld zu kommen, müsste Poppy staatliches WAHN-Geld beantragen, das aber nur an psychisch Kranke ausbezahlt wird. Doch würde Poppy nun einen solchen Antrag stellen, würde dies gleichzeitig bedeuten, dass Poppy wirklich gestört ist.
Bei ihrer Einweisung bekommt Poppy die Dauerinsassin N als Betreuung zugewiesen. So nach und nach entwickelt sich eine Freundschaft zwischen den beiden. Nicht zuletzt dadurch, dass N ihr mit Rat und Tat zur Seite steht. Obwohl sie eigentlich nicht begreift, warum Poppy überhaupt aus der Anstalt will: Wie alle Patienten der Dorothy Fish setzt auch N alles daran, die geschützte Werkstätte nicht verlassen zu müssen. Und so inszenieren sich MittelklasseMichael, Tony Hasskappe, WeißWesley, ZweiterStockPaolo, KopfhörerCarla, … bei jeder Begutachtung (bei der Noten zwischen 1 und 6 vergeben werden), um ja wieder als „verrückt“ eingestuft zu werden.
Schlussendlich bleibt Poppy nichts anderes übrig als den WAHN-Antrag auszufüllen – am Küchentisch zu Hause, gemeinsam mit N:
„Ich will nicht angeben, aber ohne meine Hilfe hätte Poppy es nicht geschafft. Die hatte keinen blassen Schimmer.
„Stopp!“, sagte ich. „Was machst du da?“
„Ich trage doch nur meinen Namen ein“, sagte sie.
„Aber doch nicht so!“, sagte ich. „So doch nicht!“
„Hä?“
„Du musst krakeln.“
„Hier steht aber: in Blockschrift.“
„Scheißegal. Du musst Krakelschrift schreiben. Du bist schließlich psychisch krank.“
„Na gut.“ Poppy schrieb klein weiter.
„Versuch es mal mit der anderen Hand.“
„Es muss doch lesbar sein.“
„Vetrau mir Poppy. Ich weiß Bescheid.“
[…]
„Ich schreibe doch da nicht hin, dass ich ins Bett scheiße“, sagte Poppy. „Tut mir leid, aber das kann ich nicht.“
„Reg dich nicht künstlich auf“, sagte ich. „Hör zu“, ich trank einen Schluck Bier. „Es kommt nicht darauf an, was du willst. Was du willst, kommt hier gar nicht vor. Du musst ihnen das geben, was sie wollen. Den Fehler machen viele.“
„Aber warum wollen sie so nen Quatsch hören?“ fragte Poppy. „Kann man nicht auch ohne Inkontinenz des Darms psychisch krank sein?“ Sie grinste.
„Wenn du meinst. Schreib, was du willst.“
„Entschuldige.“
Ich nahm eine Handvoll Erdnüsse.
„Bitte, N. Erklär es mir.“
Ich schüttelte den Kopf. „Du begreifst das Wichtigste nicht. In diesem Formular geht es nicht um irgendeine psychische Erkrankung. Hier geht es darum, dem Checker das zu geben, was er hören will. Das ist wie ein Geschäft. Du sagst denen, was sie gerne hören möchten, und dafür geben sie dir WAHN-Geld.“
„Man kriegt nichts geschenkt im Leben, was?“ sagte Poppy
„Ist egal, wie die Bekloppten in Wirklichkeit sind. Hier zählt nur, wie sie uns haben wollen.“
„Wie denn?“ fragte Poppy. „Das begreife ich nicht. Warum wollen sie, dass wir so sind, wie sie sich uns vorstellen? Ich meine, dass wir ins Bett kacken und so.“ Ich sah sie an. „Im Ernst!“, sagte sie.
„Tja“, sagte ich und überlegte einen Moment lang. „Dafür sind wir eben da“, sagte ich. „Damit sie sich als was Besseres vorkommen, wenn wir uns vollsabbern und einscheißen. Sie können auf uns herabgucken und sich sagen: Gott sei Dank bin ich nicht so! Das ist eine Art Dienst an der Gemeinschaft. Man braucht seine Bekloppten, sonst gäbe es keine Checker.“
„Wofür sind die Checker überhaupt da?“, fragte Poppy.
„Um uns die Sozialhilfe zu zahlen“, sagte ich. „Und sie wollen was für ihr Geld bekommen.“
Poppy grinste. „Also kriegen sie, was ihnen zusteht“, sagte sie. „Du bist ganz schön gerissen!“
Die englische Autorin Clare Allan setzt uns mit der Geschichte, die allein aus der Perspektive von N erzählt wird, den Spiegel des (englischen) Gesundheitssystems vor. Das zurückgeworfene Bild ist verzerrt, vielleicht auch surreal, doch mit einigem Wahrheitsgehalt. Was oberflächlich betrachtet recht lustig zu lesen ist („fesselnder als jede Zwangsjacke“), offenbart sich nach tieferer Auseinandersetzung als deprimierende Bestandsaufnahme und Tragödie mit tiefschwarzem Humor. Der Roman wurde mittlerweile auch verfilmt und wurde März 08 im britischen Fernsehen ausgestrahlt.