Scarlett Thomas: Troposphere
Mariel ist Literaturstudentin und stößt in einem Antiquariat auf die letzte Ausgabe eines Buchs, von dem sie weiß, dass sich ihr Professor mit dem Autor beschäftigt. Das Buch trägt den Titel „The End of Mr. Y“ (->MisterY, dieser Hinweis ist wohl mehr als deutlich) und ist von Thomas Lumas im 19. Jahrhundert geschrieben worden. Es heißt, dass dieses Buch verflucht ist: Jeder, der das Buch liest oder mit ihm zu tun hat, stirbt. Mariel kann nicht anders und beginnt das Buch zu lesen. Sie kommt ziemlich schnell dahinter, warum das Buch so heiss begehrt ist. Es beinhaltet ein altes Rezept für die Reise in die Tropsphere. Als sich Mariel die Ingredienzien für den Trip besorgt und die Tinktur ausprobiert erfährt sie, was es mit der Troposphere auf sich hat. Ein schräges Hirn-Hopping durch das Multi-Universum beginnt. Mariel ist Doktorandin und arbeitet als Assistentin für ihren Professor für Anglistik und Amerikanistik, der seltsamerweise seit geraumer Zeit verschollen ist. Sie wohnt mit Wolfgang, einem Deutschen, in einer WG zusammen, knabbert am Hungertuch, hat einen älteren Liebhaber, steht auf Sado-Maso-Sex mit eingeschränkter Gewaltanwendung – dass ihr Leben nicht ganz so der Norm verläuft, ist ihr durchaus bewusst.
Es ist ein „schmales, blasses Bändchen“, um das sich die ganze Geschichte dreht und Scarlett Thomas hat daraus ein Buch-im-Buch gemacht, denn Ausschnitte von „The End of Mr. Y“ sind in „Troposphere“ abgedruckt. Der Leser wird somit mit zwei Büchern beglückt. In „The End of Mr. Y“ geht’s eigentlich nur darum, wie Mr. Y auf einem Jahrmarkt seine erste Reise in die Troposphere macht und wie er dann zum Rezept für die Reise-Tinktur kommt. Dass auf dem Buch ein Fluch liegt, kann es ja dann eigentlich nur spannender machen.
Bevor ich zu lesen beginne, habe ich einen experimentellen Gedanken, nur eine Sekunde lang. Was wäre, wenn dies das wirkliche Leben ist? Was wäre, wenn ich verflucht bin und sterben werde, genau wie Lumas und jeder, der „The End of Mister Y“ in den letzten Jahren des neunzehnten Jahrhunderts gelesen hat? Wenn ich ernsthaft denken sollte, dass das wirklich sei, würde irgendein Überlebensinstinkt mich doch bestimmt dazu bringen, damit aufzuhören, oder? Aber wenn es nicht wirklich ist, warum mache ich mir dann Gedanken?
Als Mariel das Buch liest, probiert sie auch das darin beschriebene Rezept aus. Mit der nur aus wenigen Ingredienzien bestehenden Tinktur ist es möglich, in die Troposphere zu reisen und das gelingt Muriel auch schließlich. Sie findet sich in einer seltsamen Traum- bzw. Geisterwelt, in der alles nur Erinnerung ist, wieder, wo sie sich auf verschiedene Arten zeitlich und örtlich bewegen kann, z.B. mittels Sprung in das Gehirn einer anderen Person. Selbstverständlich bekommt man so auch die geheimsten Gedanken und Gefühle derjenigen Person mit. Komisch wird’s, als Muriel sich im Kopf einer Ratte befindet…
Was zuerst als schräger Urlaub von der Realität anmutet, wird für Muriel bald zu einer lebensbedrohlichen Verfolgungsjagd. Mysteriöse Agenten sind ihr in der wirklichen Welt knapp auf den Fersen, denn sie wollen das Geheimnis des Buches für sich in Anspruch nehmen. In der Troposphere wird sie von den KIDS verfolgt, die sie natürlich töten wollen. Hilfe bekommt Muriel von dem comicartigen Mäuse-Gott Apollo Smintheus und dem Priester Adam, in den sie sich selbstverständlich auch verliebt.
Die Idee dieses Romans ist schräg, die Handlung stellenweise auch spannend. Wenn nun der Leser auch gewillt ist, sich auf philosophische Dialoge und Gedanken der Charaktere einzulassen, in denen es um Quantenphysik, Homöopathie, moderne Physik und aristotelische Poetik geht, ist ein Lesevergnügen sicher. Einen gewissen Intellekt, der über die durchschnittliche Allgemeinbildung hinausgeht, setzt die Autorin voraus, denn dann sind auch ihre Ideen um die verschiedenen Theorien über Realität und Bewusstsein und ihre Querverbindungen zur Handlung nachvollziehbar und interessant.
„Eines der merkwürdigsten Dinge hinsichtlich subatomarer Teilchen ist jedenfalls, dass etwas Sonderbares passiert, wenn man sie beobachtet. Solange man sie nicht beobachtet, befinden sie sich in einem verschmierten Zustand aller möglichen Positionen im Atom: in der Superposition oder der Wellenfunktion.“
Adam schüttelte den Kopf. „Da komme ich leider nicht mehr mit.“
„Okay“, sagte ich. „Stell dir vor, du bist ausgegangen, und ich weiß nicht, wo du bist. Du könntest in der Universität sein, im Park, in einem Geschäft, in einem Raumschiff, auf dem Pluto, irgendwo. Das sind alles Möglichkeiten, obwohl manche wahrscheinlicher sind als andere.“
[…]
„In diesem Beispiel“, sagte ich, „spielst du die Rolle des Teilchens … Nun, die Quantenphysik sagt, dass du, wenn deine Position unbekannt ist – soweit ich weiß, könntest du in dem Geschäft oder im Park sein -, eigentlich an allen Orten gleichzeitig existierst, bis jemand deinen Aufenthalt mit Sicherheit herausfindet, indem er dich beobachtet. Also gibt es anstelle einer eindeutigen „Realität“ einen verschmierten Fleck. Du bist in dem Geschäft und im Park und in der Universität, und erst, wenn ich dich suchen gehe und sehe, dass du im Park bist, lösen sich alle anderen Möglichkeiten in Nichts auf, und die Realität setzt ein.“
„Demnach hat die Beobachtung Auswirkungen auf die Realität?“, fragt Adam.
„Ja – na ja, gemäß dieser Betrachtungsweise, Diese Annahme, dass alle Wahrscheinlichkeiten als Wellenfunktion existieren, bis sich ein Beobachter, von außen die Wellenfunktion anschaut – und sie deshalb zum Einsturz bringt -, nennt man Kopenhagen-Interpretation.“
„Gibt es noch andere Betrachtungsweisen?“
„Ja. Es gibt die Viele-Welten-Interpretation. Kurz gesagt: Während die Kopenhagen.Interpretation vorschlägt, dass alle Möglichkeiten bei einer Beobachtung in eine eindeutige Realität zusammenfallen, geht die Viele-Welten-Interpretation davon aus, dass alle Möglichkeiten gleichzeitig existieren, aber dass jede dafür ihr eigenes Universum hat. Demnach gibt es buchstäblich viele Welten und jede mit einem kleinen Unterschied. Also bist du in dem einen Universum im Park, in einem anderen bei der Arbeit, und in einem dritten bist du auf dem Mond oder im Zoo oder wo auch immer.“
[…]
„Und was hat das mit dem Urknall zu tun?“