Joseph Zoderer: Die Farben der Grausamkeit
Verheiratete Leser würden sich wohl nach der Lektüre dieses Buches gut überlegen, einen Seitensprung zu wagen. Richard, ein Radiojournalist, führt ein ausgesprochen männliches Doppelleben: Obwohl sehr glücklich verheiratet, zieht es ihn in seinen Gedanken zu seiner jungen Ex-Geliebten Ursula. Auch als er sich mit seiner Familie auf einen einsamen Bergbauernhof zurückzieht, lässt ihn seine Sehnsucht nicht in Ruhe. Er beginnt als Auslandskorrespondent zu arbeiten und flüchtet in das Getümmel europäischer Hauptstädte. In Berlin, kurz bevor die Mauer fällt, trifft er auf Ursula und die einstige leidenschaftliche Liebe zwischen den beiden flammt wieder auf. Spätestens jetzt muss Richard eine längst überfällige Entscheidung treffen. „Die Farben der Grausamkeit“ handelt von einer klassischen Dreiecksbeziehung und konzentriert sich ausschließlich auf Richards seelischen Innenleben. Der Südtiroler Autor Joseph Zoderer erzählt die Geschichte eines Zerrissenen und Getriebenen, die einen – auch lange nach dem Umblättern der letzten Seite -, immer noch darüber nachdenken lässt. Als Richard der jungen Redaktionspraktikantin Ursula begegnet, ist er mit Selma bereits sechs Jahre verheiratet und sein Sohn Rik macht gerade seine ersten Schritte. Richard erlebt in seiner Liebe zu Ursula alles, was eine bereits in die Jahre gekommene Beziehung nicht mehr bietet: leidenschaftliche Spontaneität und Lust. Und da Richard aber auch gleichzeitig seine Familie nicht aufgeben will und kann, beginnt er ein Doppelleben, das auf Dauer nicht gut gehen kann: „Er hatte begonnen, seine Seele zu teilen, ohne es wahrzunehmen, lebte säuberlich getrennt in zwei Welten.“
Als Ursula die Beziehung beendet, atmet Richard auf und weiß gleichzeitig, dass dies auch „sein Fallbeil“ sein wird. Richard flüchtet in die Einsamkeit. Nicht zuletzt, weil er seine Familie nicht verlieren möchte. Mit Selma, Rik und seinem zweiten Sohn Tom zieht er in ein baufälliges Haus am Berg. Gemeinsam beginnen sie es zu renovieren.
Immer wollte er in ein anderes Land und von diesem anderen Land wieder in ein anderes Land und von einer anderen Stadt in wieder eine andere Stadt. Aber plötzlich, von einem Tag auf den anderen oder von einer Nacht auf die andere, wollte er nirgendwo mehr hin, außer hinaus in den Schnee, auf die schneebedeckten, in der Sonne glitzernden Kristallebenen, hinein in die schneegepolsterten Wälder, je weiter hinein, desto besser, desto lauter die Scheestille, desto stiller jeder innere Zwist, desto schweißtreibender der letzte Lebenswille. Er breitete die Arme aus, er dankte den schneebedeckten, den schneevergeßlichen, den schneeverschwiegenen Ästen der Fichten und Föhren.
Doch als alles her- und eingerichtet ist, als die Naturromantik zum Alltag wird, beginnt seine unstete Seele wieder zu wandern und die Sehnsucht nach Ursula an ihm zu nagen. Und er flüchtet erneut. Dieses Mal im Auftrag seines Radiosenders nach Paris, London und Berlin. Als er seine Geliebte wieder trifft und an der einstigen Beziehung anknüpft, glaubt er, seine Erfüllung gefunden zu haben. Doch da spielt Ursula nicht mit. Nicht einmal dann, als sie ein Kind von ihm erwartet.
Joseph Zoderes Psychogramm geht bis ins kleinste Detail und entblößt regelrecht den Protagonisten und seine Ambivalenz vor dem Leser. Mit einer wortgewaltigen Sprache, die einiges an Konzentration abverlangt und einen stellenweise nach Luft japsen lässt, werden scheinbar belanglose Szenen erzählt und Richards Seele beschrieben. Kein leichter Roman zugegeben, aber einer, der nachhaltigen Eindruck hinterlässt.
„Die Farben der Grausamkeit“ ist im Haymon Verlag erschienen und kann auch dort bestellt werden.