Es waren einmal … zwei Brüder und ein Spiegel. Jacob und Will haben ihren Vater schon sehr früh verloren. Und obwohl ihre Mutter es ihnen verboten hat, das Büro des Vaters zu betreten, schleicht sich Jacob schon als Kind immer wieder unbemerkt hinein. Denn in diesem Zimmer befindet sich ein alter Spiegel, durch den man in die Welt der Märchen gelangen kann.
Als Erwachsener lebt Jacob bereits mehrere Jahre in dieser Zauberwelt und verdingt sich dort als Jäger nach magischen Gegenständen aus der Märchenwelt. Doch eines Tages findet auch Will den Weg durch den Spiegel und wird sogleich Opfer im Krieg zwischen Menschen und Goyl, hartherzige Wesen aus Stein. Durch einen Biss eines Goyls verwandelt sich Will allmählich zu Stein – seine Haut wird zu Jade, sein Herz felsenhart. Jacob versucht mit Hilfe seiner Freundin Fuchs und Clara, die wiederum Will durch den Spiegel gefolgt ist, seinen Bruder vor der vollständigen Verwandlung zu retten. „Reckless“, was soviel wie gewagt und verwegen bedeutet, ist der neue Roman der Bestseller-Autorin Cornelia Funke und die Vornamen der Brüder sind die einzigen Hinweise auf die Gebrüder Grimm.
Die Sonne stand schon tief über den Mauern der Ruine, aber Will schlief immer noch, erschöpft von den Schmerzen, die ihn seit Tagen schüttelten.
Ein Fehler, nach all den Jahren der Vorsicht. Er richtete sich auf und deckte Will mit seinem Mantel zu.
All die Jahre, in denen er eine ganze Welt sein Eigen genannt hatte. All die Jahre, in denen aus der fremden Welt das Zuhause geworden war. Vorbei. Schon mit fünfzehn hatte Jacob sich für Wochen hinter den Spiegel gestohlen. Mit sechzehn hatte er nicht einmal mehr die Monate gezählt und trotzdem hatte er sein Geheimnis bewahrt. Bis er es einmal zu eilig gehabt hatte. Hör auf, Jacob. Es ist nicht mehr zu ändern.
Die Kratzwunden am Hals seines Bruders waren gut verheilt, aber am linken Unterarm zeigte sich schon der Stein. Die blassgrünen Adern trieben bis hinunter zur Hand und schimmerten in Willst Haut wie polierter Marmor.
Ein Fehler nur.
Jacob lehnte sich gegen eine der verrußten Säulen und blickte hinauf zu dem Turm, in dem der Spiegel stand. Er war nie hindurchgegangen, ohne sich zu vergewissern, dass Will und seine Mutter schliefen. Aber seit ihrem Tod gab es auf der anderen Seite nur noch ein leeres Zimmer mehr, und er hatte es nicht erwarten können, die Hand wieder auf das dunkle Glas zu pressen und fortzukommen. Weit fort.
Ob es gilt, die goldene Kugel der Prinzessin, die dann den Froschkönig heiraten wird, den Schuh des Aschenputtels oder den Tisch des Schneiders, der zu jeder Zeit reichlich gedeckt ist, zu holen – kein magisches Kleinod ist vor Jacob, dem Schatzjäger, sicher. Und nur wenige Gegenstände behält sich Jacob selbst, die meisten werden gegen Geld verhökert. So lebt der wortkarge Jacob im Reich der Märchen, ein raues Pflaster voll von bösen Kreaturen, die einem an den Kragen gehen wollen (so wie ja auch Grimms Märchen nicht gerade liebenswürdig ausgestattet sind). Doch Jacob ist geschickt und selbst die Kaiserin der Märchenwelt nimmt seine Dienste gerne in Anspruch.
Als Will in seine Welt kommt und dann auch noch von einem Goyl gebissen wird, tut Jacob alles, um seinen jüngeren Bruder zu retten. Bis er begreift, dass die Verwandlung Wills zu einem Jade-Goyle von der dunklen Fee von langer Hand geplant war, um die Herrschaft der Goyle über das gesamte Märchenreich zu sichern, ist es fast schon zu spät. Aber Jacob hat Helfer: Fuchs, einmal Tier und einmal Mensch und treueste Gefährtin Jacobs, Clara, Wills Freundin, und ein mit Vorsicht zu genießender Zwerg.
Cornelia Funke hat sich durch ihre fantasievollen Geschichten einen Namen gemacht. Auch in „Reckless“ findet man kreative Verbindungen zu Fantasy- und Märchenwelten. Besonders die Zutaten aus sämtlichen Grimms Märchen sowie Sprünge in der zeitlichen Erzähllinie machen diesen Roman reizvoll. Leider geht die Spannung und der Kribbel bei Jacobs Abenteuern ab. Im Vergleich zu anderen märchenhaften Fantasy-Romanen konnte mir „Reckless“ nicht hundertprozentig begeistern. Die Idee des Buches ist wirklich gut, die Ausführung – gerade bei den Charakteren – hätte plastischer sein können.