Stellt euch eine riesige Bibliothek vor, in denen die Geschichten der Toten, gelagert in unzähligen Schubladen und geordnet in endlosen Regalen, ruhen. Der Ort, an denen diese Historien aufbewahrt werden, nennen die zuständigen Bibliothekare „Archiv“, die Lebensgeschichten „Chroniken“. Diese Chroniken sind keine Bücher, sondern haben die Form ihrer verstorbenen Träger. Die Bibliothekare ordnen und sortieren diese Chroniken und sind auch diejenigen, die sie auch lesen können. Doch hin und wieder erwacht eine Chronik und entwischt aus einer der unzähligen Türen des Archivs. Diese Chroniken irren dann ziellos in verschlungenen, dunklen Gängen, den „Narrows“, umher. Sie wieder einzufangen und in das Archiv zurückzubringen, ist die Aufgabe der Wächter. Die Heldin dieser Geschichte ist eine davon.
Als Mackenzie Bishop zum ersten Mal das Archiv betritt, ist sie kaum zwölf Jahre alt. Zusammen mit ihrem Großvater steht sie vor einer Gruppe ausgewählter Bibliothekare, um ihnen zu beweisen, dass sie für die Arbeit als Wächterin – als Nachfolgerin ihres Großvaters – geeignet ist. Vier Jahre später, ihr Großvater ist mittlerweile verstorben, ist Mac bereits ein alter Hase im Einfangen entflohener Chroniken. Von diesem teilweise lebensgefährlichen Job hat natürlich keiner in Macs Umfeld einen blassen Schimmer. Diskretion um die Existenz des Archivs und der Chroniken ist oberstes Gebot. Aus diesem Grund erfindet Mac immer wieder neue Ausreden und Lügen, um sich von ihren Eltern davon zu schleichen, um in den Narrows ihrer Aufgabe nachzugehen.
Als Macs kleiner Bruder bei einem Unfall stirbt, ist es nicht nur um ihren Seelenfrieden geschehen. Auch ihre Eltern trauern um den Verlust und wissen nicht damit umzugehen. Der Umzug in eine andere Stadt, in eine andere Wohnung, soll helfen, mit der Tragödie fertig zu werden und abzuschließen. Und genau hier beginnt die Geschichte – vor dem pompösen und betagten Eingang des „Coronados“. Das Coronado ist ein ehemaliges Hotel, nun aber eine vor sich hinbröckelnden Wohnanlage mit sechs Stockwerken und einem verstaubten Café im Erdgeschoss. Kaum hat Mac den letzten Koffer in ihr neues Zuhause, dem Apartement 2F, getragen, wird sie auch schon mit dem Einfangen einer Chronik beauftragt.
Das Kratzen von Buchstaben. Ein Name, der sich auf das Stück Archivpapier in meiner Tasche schreibt. Ich ziehe den Zettel heraus – er ist ungefähr so groß wie eine Quittung und seltsam steif -, auf dem nun in fein säuberlicher Kursivschrift der Name der Chronik steht:
Emma Claring, 7.
„Mac“, ruft Dad. „Kommst du?“
Ich trete noch einen Schritt zurück in den Gang.
„Hab meine Tasche im Auto vergessen“, behaupte ich. „Bin gleich wieder da.“
Ein Schatten huscht über Dads Gesicht, aber er nickt bloß und dreht sich weg. Die Tür schließt sich mit einem Klicken. Seufzend wende ich mich dem Flur zu.
Ich muss diese Chronik finden.
Dazu muss ich in die Narrows.
Und dafür brauche ich eine Tür.
Das Coronado ist ein altes, ehrwürdiges Gebäude mit Zimmern voller Geschichten. Mac ist neugierig und beginnt, sich dafür zu interessieren. Sie stößt dabei auf Jahrzehnte zurückliegende, ungeklärte Mordfälle. Bei einem ihrer Rundgänge durch die ausgebleichten Korridore trifft sie auf den jungen Mann Wesley, ebenfalls ein Wächter. Parallel dazu geschehen seltsame Störfälle im Archiv und die Zahl der entlaufenden Chroniken häufen sich. Immer öfter muss Mac in die Narrows ausrücken, um sie einzufangen. Bei einer ihrer Jagden trifft sie auf Owen, der eigentlich eine Chronik ist, sich aber eigenartigerweise nicht so verhält. Sie weiß nicht, ob sie Owen in das Archiv zurückschicken soll, zumal sein Name auf keiner Liste verzeichnet ist. Unsicher geworden, lässt sie Owen weiter herumstreunen und freundet sich sogar mit ihm an. Im Fortlauf der Geschichte beginnt Mac zu ahnen, dass die Morde im Coronado mit den Störfällen im Archiv zusammenhängen. Zusammen mit Wes versucht sie herauszufinden, was der Grund für die Störanfälle ist und wer bzw. was Owen in Wirklichkeit ist.
„Das Mädchen, das Geschichten fängt“ ist der sperrige deutsche Titel für den Auftakt einer dreiteiligen Serie der Jugendbuchautorin Victoria Schwab. Ebenso etwas irreführend ist die Gestaltung des Umschlags für die deutsche Ausgabe. Ich habe aufgrund der Aufmachung eigentlich mehr eine romantische Handlung erwartet. Der Umgang mit dem Tod, der Verlust eines geliebten Menschen und die Isolation durch das Anderssein sind die zentralen Themen dieses Romans. Aber keine Sorge: Die Geschichte des jungen Mädchens, die sich im Grenzbereich von Leben und Tod, Vergangenem und Gegenwart bewegt, ist mehr eine spannende, als eine düstere. Schwab erzählt flüssig, manches Mal sogar poetisch. Sie lässt die lineare Handlung des Öfteren mit Erinnerungen an den Großvater unterbrechen. Man findet sich in der Geschichte schnell zurecht, wenn auch die Autorin mit tiefer gehenden Information über das Archiv, die Bibliothekare und Chroniken sparsam umgeht. So sollte sich der Leser mit Fragen nach dem Wie oder Warum nicht unnötigerweise quälen. Vielleicht werden manche Fragen in den nächsten Bänden beantwortet.