Dieser Wiener Krimi beginnt am 2. Juli 1879, als Gustav von Karoly in seinem favorisierten Kaffeehaus, dem Café Schwarzenberg, auf eine neue Mandantin wartet. Als die ganz in Schwarz gekleidete und wohl proportionierte Dame an seinem Tisch Platz nimmt, ist Gustav hin und weg. Margarete von Leiden, Tochter des Industriellen Herr von Schwabenau, berichtet Gustav von dem Verschwinden ihrer halbwüchsigen Tochter Leonie. Gustav erfährt, dass die Baroness schon öfter ausgebüchst ist und dass sie eine Affinität zum Prater und zum Reiten hat. Mit diesen recht dürftigen Anhaltspunkten fängt nun der fesche Gustav zu ermitteln an. Er beginnt selbstredend im Prater, dem bekannten Vergnügungspark der Stadt Wien.
Gustav von Karoly verkörpert genau den Typus Mann, den wir uns vorstellen, wenn wir die Stichwörter „Jahrhundertwende“, „Wien“ und „Kaiser“ hören. Ein bisschen windig und mit einem Hang zum Müßiggang. Als unehelicher Sohn eines Grafen und einer Operettensängerin geboren, lebt er mit seiner Tante Vera, einer neugierigen und emanzipierten Dame, in einer Dienstwohnung über den Hofstallungen. Weder für das Militär noch für ein Jusstudium kann sich der junge Herr begeistern. Lieber flaniert Gustav am Ring entlang, genießt den Kleinen Schwarzen im Kaffeehaus, lässt sich von Edi, dem Kutscher, chauffieren und palavert mit seiner Tante. Doch das Geld im Haushalt ist knapp und Gustav sieht sich „gezwungen“ einer Beschäftigung nachzugehen. Entsprechend seinem Naturell, lieber am Kaffeehaustisch als an einem Schreibtisch zu sitzen, macht sich Gustav als Privatdetektiv selbstständig.
Die Dame in Schwarz ist sein dritter Fall und nach seinen ersten Eindrücken macht sich Gustav auf ein Liebesdrama gefasst. Doch als bei der Eröffnung des Riesenrades ein Zwerg – erdrosselt mit einem gepunkteten Seidentuch – in einer der Kabinen gefunden wird, bekommt Gustav Muffensausen. Mit einem Mord hatte der noch unerfahrene Detektiv noch nie zu tun. Gustav erkennt sofort, um wen es sich bei dem Toten handelt. Es ist „Napoleon“, eine Institution im Wiener Prater. Gustav erfasst auch, dass das Seidentuch eigentlich dem Jockey Freddy gehört. Sowohl Zwerg als auch Reiter haben eine direkte Verbindung zur verschwundenen Leonie: Napoleon als bester Freund der Baronesse, Freddy als deren Vater.
„Der Tod fährt Riesenrad“ besticht weder durch eine ausgeklügelte Handlung, Überraschungsmomente oder Spannungselemente. Trotzdem ist der Roman der „First Lady“ des österreichischen Krimis weder unoriginell oder sogar langweilig. Der Roman besticht durch seine zahlreichen Detailbeschreibungen der Wiener Innenstadt, durch Reflexionen über soziale und politische Entwicklungen und durch amüsante Informationen über das Alltagsleben in Wien um die Jahrhundertwende, der Zeit des Fin de Siècle.
Aus dem Lokal nebenan klangen süßliche Walzerklänge herüber. Die Strauss-Dynastie hat die österreichische Musik fest im Griff, dachte Gustav. Der Walzer, der such aus dem oberösterreichischen Landler entwickelt hatte, war zurzeit der beliebteste Tanz beim Volk. Fröhlich drehten sich die Paare mit mehr oder weniger anmutigen Bewegungen im Dreivierteltakt auf der kleinen Bühne.
Amüsiert beobachtete er, wie nach jeder Runde abkassiert wurde. Die Tänzer hatten fünf Kreuzer zu bezahlen. Deshalb wurde dieser Tanz im Volksmund Fünf-Kreuzer-Tanz genannt. Manchmal zahlte sogar die Dame, die meist ein Stubenmädchen oder eine böhmische Köchin war und ihren schlecht besoldeten Soldaten freihalten musste. Oft hießen diese Mädel Marie. Mittlerweile galt dieser hübsche Name bereits als Synonym für Geld bei Wienern.
„Der Tod fährt Riesenrad“ von Edith Kneifl ist im Haymon Verlag erschienen und kann dort auch bestellt werden.