Der Titel lässt eher erotische Thriller-Oberflächlichkeit erwarten. Was der Autor aber zwischen den zwei Buchdeckeln verpackt, ist eine feinfühlige und tiefsinnig geschriebene Krimi-Geschichte über Freundschaft, Vertrauen, Verlust und Vergangenheit – in einer Welt spielend, die von uns nicht nur geografisch sehr weit weg ist: China.
Paul Leibovitz, Amerikaner mit deutschen Wurzeln, lebt einsam auf einer Insel vor Hongkong. Traumatisiert durch den Tod seines Sohnes vor drei Jahren, versucht er sein Leben ohne Veränderung und Aufregungen in einer pulsierenden Umgebung zu bewältigen. Erst als ihn eine Amerikanerin bittet, ihr bei der Suche ihres Sohnes zu helfen, bekommt seine gepflegte Isolation Risse. Bald stellt sich heraus, dass der Sohn der Amerikanerin, der sich geschäftlich in Hongkong aufhielt, ermordert wurde. Paul wird immer mehr in den Fall verstrickt; nicht zuletzt durch seinen besten Freund, Kommissar Zhang, der versucht, den von den chinesischen Behörden vertuschten Mord, aufzuklären.
Neben dem Mord-Ermittlungen, Pauls Trauerarbeit und Zhangs Vergangenheitsbewältigung sind Kapitalismus und Kommunismus als unterschiedliche Lebens- und Wirtschaftsphilosophien ein großes Thema in diesem Roman. Mit Hilfe der Charaktere stellt der Autor vor dem Hintergrund des chinesischen Wirtschaftsbooms Ost und West gegenüber und läßt sie Unterschiede aber auch Gemeinsamkeiten entdecken, wie das Streben nach Reichtum und Macht:
„Ihr Joint-Venture-Partner hatte ihn bereits bei ihrem ersten Treffen im Hongkonger Regent Hotel außerordentlich beeindruckt. Tang sprach ein nahezu akzentfreies, perfektes Englisch. Er hatte vier Jahre an der Harvard School of Business studiert, war in dieser Zeit viel durchs Land gereist und verblüffte Richard Owens immer wieder mit seinem umfangreichen historischen Wissen. […] Das würde ihm in Winconsin niemand glauben. Ein Chinese, der ganze Absätze aus der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der Gettysburg-Ansprache von Abraham Lincoln auswendig konnte, ein Chinese, der behauptete, es gäbe eine geistige Verwandschaft zwischen Den Xiaoping und Ronald Reagan, und das auch noch mit Zitaten belegen wusste. „Gier ist gut“, hatte der Amerikaner proklamiert, „reich zu werden ist glorreich“, der Chinese, und beide, behauptete Tang, meinten dasselbe. Es schmeichelte den Owens, indem er immer wieder betonte, dass China von Amerika sehr viel lernen könnte und dass es dazu jetzt endlich bereit sei. „Der amerikanische Traum, Herr Owen, ist sehr lebendig. Er wird heute geträumt und gelebt von Millionen Chinesen, und es werden jeden Tag mehr, glauben Sie mir.““
Aber die geschäftliche Interessen, die zum Mord an den Amerikaner führen, sind nur ein Teil der vielen Handlungsstränge, die der Autor verfolgt und gegen Ende zusammenführt und auflöst. „Als wäre Vetrauen etwas für Dumme. Als hätten wir eine Wahl„, könnte als Leitgedanke gesehen werden, den es gilt, gegen Ende zu widerlegen. Paul kämpft noch immer mit dem Verlust seines Kindes, Zhang und Christine mit ihrer politischen Vergangenheit… Es ist seltsamerweise ein Mord, der das zarte Pflänzchen namens Vertrauen zum Wachsen bringt.
Der Autor Jan-Philipp Sendker, ist eigentlich Journalist und arbeitete als Asien-Korrespondent für den „Stern“. Dass der Autor sich in China auskennt, ist in jeder Zeile nicht nur zu lesen sondern auch zu spüren. „Das Flüstern der Schatten“ ist – abgesehen vom Titel – ein vielschichtig gelungenes Buch – nicht nur für China-Fans.