1847 veröffentlichte Charlotte Brontë „Jane Eyre“, ihre Schwester Emily „Wuthering Heights“ und schließlich die dritte Schwester, Anne, ihren Gouvernantenroman „Agnes Gray“. Die ersten beiden wurden Klassiker der englischen Literatur, letzteres ist fast vergessen. Das ist nicht verwunderlich, wurde der Roman nicht nur von den Werken ihrer Schwestern überschattet, sondern auch von den Kritikern kaum wahrgenommen. Zugegeben: Auch wenn „Agnes Grey“ ein Roman ohne große Töne und Dramen auskommt, so besticht er doch durch eine sehr charmante Erzählkunst.
Um ihre frisch verwitwete Mutter finanziell zu unterstützen, bewirbt sich Agnes gegen alle familiären Widerstände als Gouvernante. Das geht mehr oder weniger ziemlich schief. Agnes ist selbst noch jung, unerfahren und naiv, was ihre Menschenkenntnis betrifft. Sie gerät zunächst an eine Familie mit vier schrecklich verzogenen Kindern, denen sie kaum Herr wird. Sie wird entlassen und kehrt nach Hause zu ihrer Mutter und ihren Schwestern zurück. Aber Agnes gibt nicht auf und bemüht sich um eine weitere Stelle als Erzieherin.
In Horton Lodge bei den Murrays ist die Situation unmerklich besser. Agnes ist für zwei jugendliche Mädchen, Rosalie und Mathilda, die ihr bald auf der Nase herumtanzen, verantwortlich. Wie auch bei ihrer ersten Familie, bleibt Agnes auch in Horton Lodge gesellschaftlich isoliert. Nicht nur die Familie, sondern auch die Bediensteten und die Nachbarschaft lassen sie den Standesunterschied tagtäglich spüren. Allein der Hilfspfarrer Edward Weston richtet ab und zu freundliche Worte an das graue Mäuschen.
Selbstredend verliebt sich die junge Frau in den feschen Pfarrer. Da sie selbst tief in ihrer Religion verwurzelt ist, kommt ihr sein aufrechter Charakter entgegen. Aber noch bevor sie die zarte Freundschaftsbande intensivieren kann, macht ihr Rosalie, die ältere Tochter der Familie, einen Strich durch die Rechnung.
Bücherwurm trifft auf affektiertes Püppchen
Rosalie würde man heute wohl eine Tussi nennen. Sie ist eitel, benimmt sich dumm und arrogant, ist Agnes aber trotzdem nicht ganz unsympathisch. Weil die gut situierte Tochter nichts Besseres zu tun hat, taxiert sie junge Männer, um auszuloten, wie weit sie mit ihren weiblichen Reizen kommt. „Ich will, dass er meine Macht spürt„, vertraut sie Agnes an. Logisch, dass sie auch ein Auge auf Edward Weston wirft und sich an ihn heranmacht. Nicht nur um der schüchternen Agnes eins auszuwischen, sondern auch um sich die Zeit bis zu ihrer Hochzeit mit Lord Ashby zu vertreiben. Was für ein Biest! Trotz größter Seelenqualen bleibt die Gouvernante bei diesem Spiel der Gefühle professionell zurückhaltend und ihren Prinzipien treu.
Unterdrückung der Gefühle
Ihren Debütroman „Agnes Grey“ veröffentlichte Anne Brontë ursprünglich unter ihrem Pseudonym Acton Bell. Ihre Titelfigur, die uns die Geschichte tagebuch- bzw. bekenntnisartig erzählt, weist zahlreiche Parallelen zum Leben der Autorin auf. Anne war selbst Tochter eines Pfarrers und arbeitete einige Jahre als Gouvernante. Trotz der Liebesgeschichte ist der Roman sozialkritisch angelegt. Es geht um Prinzipien in der Erziehung, gesellschaftliche Werte, Moral, Selbstbestimmung der Frau und um die Respektlosigkeit gegenüber der Unterschicht.
Das Fehlen von Spannung und Dramatik sowie die detaillierten Beschreibungen von Agnes‘ Gedanken werden bei manchen Leserinnen und Leser das Gefühl von Langatmigkeit hervorrufen. Mir haben der schnörkellose Stil, die psychologische Klarheit und die Thematik jedoch gut gefallen. (Auch wenn mich manches Mal Agnes‘ Hang zu Märtyrertum schaudern ließ). „Agnes Grey“ ist ein weiteres Stück englischer Literatur, das einen wie bei „Jane Eyre“ oder Jane Austens „Stolz und Vorurteil“ wunderbar in die Epoche des Viktorianismus eintauchen lässt. Der Roman wurde 2015 vom dtv-Verlag neu übersetzt und und in einer sehr ansprechenden Aufmachung heraus gegeben.