„The Architect’s Apprentice“ ist der englische Titel dieses Romans und beschreibt – wie so oft – den Inhalt treffender als der deutsche. Denn dies ist die Geschichte eines indischen Jungen in Istanbul zu der Zeit, als die prunkvollen Moscheen gebaut wurden. Es ist die Geschichte seiner Neugier, die ihn in den Palast des Sultans führt, und seine Liebe zu einem weißen Elefanten. Und es ist auch die Geschichte über Istanbul selbst, seine Sultane und seinen berühmtesten Architekten: Sinan.
„Du bist eine liebenswürdige, aber verwirrte Seele. Du bist wie ein Boot mit zwei Ruderern, die in entgegengesetzte Richtung rudern. Du hast die Mitte deines Herzens noch nicht gefunden.“
In diesem Buch reist der Leser mit leichtem Gepäck durch das Istanbul des 16. Jahrhunderts. Der Held Jahan, aus dessen Sicht der Roman erzählt wird, kommt als 12-Jähriger und in Begleitung von Chota, einem weißen Elefanten, von seiner Heimat Indien an den Hof des Sultans Süleyman. Dort steht er im Dienst als Mahut, was soviel wie Elefantenführer bedeutet. Der Elefant ist bald Palastgespräch. Besonders die Tochter des Sultans interessiert sich für das Tier und in weiterer Folge auch für Jahan. Prinzessin Mihrimah besucht unter Missbilligung ihrer Gouvernante regelmäßig Chota. Die zarte Bande, die sich zwischen ihr und Jahan entwickelt, kommt nicht unerwartet.
„Schade, dass deine Geschichte zu Ende ist“, sagte Mihrimah seufzend. „Ich hätte dir noch tausend Tage zuhören können.“
So wie Chota das Bindeglied zwischen den jungen Leuten ist, löst der Elefant auch Jahans Begegnung mit dem berühmtesten aller osmanischen Architekten dieser Zeit aus. Jahan schafft es, als vierter Lehrling beim Hofarchitekten Sinan aufgenommen zu werden. Er wird in der Palastschule unterrichtet, lernt Sprachen und Mathematik, konkurriert mit den anderen Lehrlingen um Sinans Aufmerksamkeit und strengt sich an, um sich zu bewähren. Es ist wichtigste Schaffensperiode seines Meisters: Sinan entwirft und baut die Süleymaniye- und Selimiye -Moschee, zahlreiche Brücken, Mausoleen, Aquädukte und viele andere Bauwerke.
Begann Sinan mit mit einem neuen Entwurf, fastete er zuvor drei Tage lang, und wenn ein Gebäude, wie groß auch immer, fertiggestellt war, hinterließ er etwas Fehlerhaftes darin – eine verdrehte Fliese, einen auf den Kopf gestellten Stein oder ein Stück Marmor mit angeschlagener Kante. Er sorgte stets dafür, dass solch ein Makel blieb, sichtbar für das Kennerauge, unsichtbar für alle anderen.
Sinan wird für Jahan zu einem Vater, zu einem Vorbild, dem es nachzueifern gilt. Doch der Baumeister ist nicht der einzige Freund Jahans. Während Jahan zu einem Mann heranwächst, trifft er immer wieder den Zigeuner Balaban, Sinans charakterliches Gegenstück. Auch dieser steht Jahan zur Seite, wenn auch in seiner eigenen Art. Und Hilfe kann Jahan oft gebrauchen: Er begegnet einem gierigen Kapitän, hinterlistigen Eunuchen und falschen Wesiren. Jahan muss mit Chota in den Krieg ziehen, einen Termin mit Michelangelo überstehen und ein Observatorium zerstören.
„Der Architekt des Sultans“ hat viele Seiten. Obwohl es keinen Höhepunkt gibt und mit Spannungselementen gegeizt wurde, kommt keine Langweile oder Langatmigkeit auf. Historische Details über die herrschende Sultane, märchenhafte Beschreibungen osmanischer Bauerwerke, der Stadt Instanbul und ihre zahlreichen und unterschiedlichen Bewohner sowie Jahans Entwicklung zu einem begabten Baumeister sorgen für eine lebendige, anekdotische Erzählweise mit einem sehr guten Unterhaltungswert.
Elif Shafak, in Straßburg geboren, gehört zu den meistgelesenen Schriftstellerinnen in der Türkei. Die preisgekrönte Autorin von dreizehn Büchern, darunter »Die vierzig Geheimnisse der Liebe« (2013) , »Ehre« (2014) und »Der Architekt des Sultans« (2015), schreibt auf Türkisch und auf Englisch. Ihre in der Türkei teils heftig umstrittenen Werke sind in über dreißig Ländern erschienen. Elif Shafak lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in London und Istanbul.