Haruki Murakami: Hard-Boiled Wonderland und das Ende der Welt

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Das Buch hat zwei Titel, weil es aus zwei parallel verlaufenden Geschichten besteht. Der namenlose Protagonist und Ich-Erzähler beider Geschichten ist derselbe. Murakami beschert uns mit diesem futuristisch anmutenden Roman ein traurig-schönes und berührendes Leseabenteuer. In der einen Geschichte ist der Held ein so genannter Kalkulator in Tokyo, ein Zahlenwäscher und Kodierer von Datenmaterial.

Da herkömmliche Verschlüsselungstechniken von Daten nicht mehr sicher vor den „Semioten“ sind, erfindet ein genialer und besessener Wissenschafter ein Codierverfahren, das es unmöglich macht, Daten zu knacken. Die Informationen werden dazu in einer „Black Box“ gespeichert, die sich tief im Unterbewusstsein eines Menschen befindet. Unser Held war eines von 27 Versuchskaninchen, bei denen diese Technik installiert wurde. Und er – als einziger – überlebte dabei. Doch der Wissenschafter ging bei seinen Experimenten noch weiter … Der Held befindet sich plötzlich mitten im Machtkampf zwischen zwei Superinstitutionen und ihm bleibt nur eines übrig: den Wissenschafter zu finden, um Informationen über sich selbst zu bekommen.

„Alle Erinnerung war merkwürdig platt, wie ein Automobil, das in der Hochdruckpresse zu einer bloßen Metallscheibe zerquetscht wird, platt – bei erhaltener Komplexität, wie eine Kreditkarte. Von vorne gesehen nur ein kleines bisschen unnatürlich, von der Seite jedoch nichts als ein Strich, beinahe ohne jeden Sinn. Die Karte enthielt mich, alles, ohne Frage, aber war doch nichts als eine Plastikscheibe. Solange man sie nicht in den Schlitz des dafür gebauten Lesegerätes steckte, hatte sie keinerlei Sinn.

Wahrscheinlich wurde der erste Schaltkreis schwächer. Deshalb wirkten meine tatsächlichen Erinnerungen so platt, als gehörten sie zu jemand anders. Mein Kopf stand in Begriff, sich von mir zu entfernen. Die Karte meiner Identität würde immer dünner werden, dünn wie Papier, und dann ganz verschwinden.

In der anderen Geschichte geht es um das Ende der Welt, dargestellt durch eine surreale Stadt, umgeben von unbezwingbaren Mauern und beherrscht von Einhörnern. In dieser Stadt leben gefangen seelenlose Menschen für die Ewigkeit. Der Ich-Erzähler weiß nicht, warum er hier ist, oder wie er an diesen Ort gekommen ist. Gleich bei seiner Ankunft, muss er als erstes seinen Schatten abgeben. Der Verlust der gesamten Identität und schlussendlich seiner Seele ist nur noch eine Frage von ein paar Monaten.

„Du hast mir ganz zu Anfang einmal gesagt, wenn es Ruhe wäre, nach der ich suchte, würde es mir bestimmt gefallen in der Stadt. Und tatsächlich gefallen mir die Ruhe und der Friede hier. Ich weiß auch, dass dieser Friede vollkommen wird, sobald ich meine Seele verloren habe, Hier gibt es nichts, was den Menschen Schmerzen zufügen könnte. Wahrscheinlich werde ich mein ganzes Leben lang bereuen, dass ich die Stadt aufgegeben habe. Trotzdem – ich kann nicht bleiben, es geht einfach nicht. Meine Seele lässt es nicht zu, dass der Schatten und die Tiere geopfert werden, damit ich hier bleiben kann. Und deshalb, egal, wie viel Ruhe und Frieden ich auch bekommen würde, kann ich meine Seele nicht täuschen, selbst wenn ebendiese Seele bald unwiederbringlich verschwindet. Das ist wieder eine andere Sache. So etwas wie die Seele bleibt für immer verletzt, wenn man sie einmal hintergeht, selbst wenn sie vollkommen ausgelöscht wird. Kannst du verstehen, was ich sagen will?“

Die zweiteilige Struktur des Romans und die letztendliche Zusammenführung der beiden Erzählungen machen dieses Buch extrem spannend zu lesen. Auf der einen Seite schlängelt sich der Weg des urbanen Singles durch ökonomisch organisierte Brutalität und misslungenen Experimenten, einem Datenkrieg und den Verlockungen der Großstadt. Am Ende der Welt kämpft er für seine Erinnerungen und gegen den drohenden Verlust des eigenen Willens. „Hard-Boiled Wonderland und das Ende der Welt“ ist intelligent, einfach und doch kunstvoll geschrieben, eine Anti-Utopie, spannend und nahe gehend.

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