„Dieses Buch zu lesen ist besser als Sex.“ So beurteilt die „Times“ den opulenten Roman von Michael Faber, der mit „Das karmesinrote Blütenblatt“ einen internationalen Erfolg einheimste. Die Geschichte spielt im viktorianischen London im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts.
Es erzählt von der Prostituierten Sugar und ihrer Beziehung zum Kosmetik-Hersteller William Rackham. Faber zeichnet mit viel Liebe zum Detail das damalige London und skizziert das Leben zwischen Prüderie und Prostiution. Für die Darstellung des damaligen Sittenbildes und die darin eingebettete Geschichte braucht Faber über 1000 Seiten. Die Geschichte selbst ist schnell erzählt: Glückloser Unternehmer trifft intelligente Prostituierte, Prostituierte wird Geliebte und zieht schlussendlich auch in sein Haus als Gouvernante seiner Tochter ein. Doch eine Prostituierte ist keine zum Heiraten und am Ende steht der Unternehmer ohne Frau, Bruder, Tochter und Geliebte da.
Dabei werden die spannenden Stellen zwischen den einzelnen Schicksalsschlägen gekonnt ausgespart und auch mit tiefenpsychologischer Schärfe bei der Darstellung der Charaktere wird gegeizt. Der Leser wird vom Erzähler – gerade zu Beginn – an der Hand genommen und durch London geführt. Dieser Fremdenführer geht allerdings nach den ersten Kapiteln irgendwo verloren und taucht erst gegen Ende sporadisch wieder auf. Szenen zwischen Freier und Hure sind so beschrieben, dass garantiert keine erotischen Gelüste aufkommen. Warum man dieses Buch Sex vorziehen sollte, ist fraglich.
Trotzdem: Wer sich für England im Allgemeinen und für die viktorianische Epoche im Besonderen interessiert, wird gut bedient. Sogar die damaligen Verhütungsmethoden werden eingehend geschildert. Viele Leser des Buches waren so hingerissen, dass der Autor eine relativ kurze Fortsetzung mit dem Titel „Sugars Gabe“ geschrieben hat. Wahrscheinlich waren diese Leser (oder der Autor selbst?) mit dem abrupten Ende des ersten Teils unzufrieden.
Wer hier erotische Literatur erwartet, wird enttäuscht. Wer sich eine spannende Geschichte erhofft, leider ebenso. Wer historische Romane schätzt, kommt auf seine Kosten. Faber belohnt hier mit außergewöhnlichem Wissen und erspart dem Leser auch die unangenehmen Facetten des Londoner Lebens nicht.
„Im Erdgeschoss fliegt eine Haustür auf, und zwei Knirpse stürmen heraus, flink wie Ratten. Einer ist nur mit Vaters Stiefeln, zerlumpten Kniehosen und einem großen Wickletuch bekleidet, der andere läuft barfuß in Nachthemd und Überzieher. Ihre Hände und Füße sind braun und hart wie Hundepfoten, ihre kindlichen Züge sind von Misshandlungen entstellt. Mehr Kinder kommen aus anderen düsteren Hauseingängen gerannt und wollen auch ihren Anteil haben. Wer Ärmel hat, krempelt sie hoch, wer keine hat, macht sich unverzüglich an die Arbeit. Trotz ihrer kräftigen Hände und finster gerunzelten Stirnen ist keiner von ihnen älter als acht oder neun, denn obwohl mittlerweile jeder halbwegs gesunde Bewohner der Church Lane wach ist, kommen nur diese jüngeren Kinder dafür in Frage, die Droschke zu fleddern. Alle anderen sind entweder betrunken oder rüsten sich gerade für einen langen Arbeitstag und den langen Weg dorthin, wo es Arbeit gibt.“