Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt
Man könnte meinen, es gäbe Spannenderes zu lesen als eine Doppelbiografie über einen Mathematiker und einen Naturwissenschaftler. „Die Vermessung der Welt“ erzählt aus den Leben von Carl Friedrich Gauß (der Mathematiker) und Alexander von Humboldt (der Naturwissenschaftler) und ist alles – nur kein staubtrockener Historienroman. Kehlmann erweckt die beiden Genies zu neuem Leben und stattet sie nachträglich mit subjektiver Persönlichkeit aus. Das Resultat ist ein Abenteuerroman, unterhaltsam und überraschend witzig. Gauß und Humboldt sind sozusagen die wissenschaftlichen Stars Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts. In „Die Vermessung der Welt“ lernen sich die beiden Wissenschaftler auf einer Tagung in Berlin kennen und bleiben seitdem – zuerst brieflich – später gedanklich in Kontakt. Doch der Roman erzählt auch von ihrer Kindheit, ihren ersten wissenschaftlichen Errungenschaften und endet mit dem Altern, dem Nachlassen der eigenen Denkfähigkeit und mit der Auseinandersetzung mit dem Tod.
Kehlmann skizziert die beiden Protagonisten als Gegenstücke zueinander: Gauß ist der Stubenhocker, der aus ärmlichen Verhältnissen stammende Denker, der Frauen-Liebhaber. Humboldt dagegen ist der Entdecker, der Reisende, der seine Leidenschaft für Buben unterdrückt, der spendable Adelige. Der eine am Schreibtisch, der andere unterwegs – wo auch immer, nur nicht in Deutschland. Ihre Gemeinsamkeit liegt in der völligen Unterordnung ihres Lebens zugunsten der Wissenschaft.
„Als er seine Hand über ihre Brust zum Bauch und dann, er entschied sich, es zu wagen, obwohl ihm war, als müsse er sich dafür entschuldigen, weiter hinabwandern ließ, tauchte die Mondscheibe bleich und beschlagen zwischen den Vorhängen auf, und er schämte sich, daß ihm ausgerechnet in diesem Moment klar wurde, wie man Meßfehler der Planentenbahnen approximativ korrigieren konnte. Er hätte es gern notiert, aber jetzt kroch ihre Hand an seinem Rücken abwärts. So habe sie es sich nicht vorgestellt, sagte sie mit einer Mischung aus Schrecken und Neugier, so lebendig, als wäre ein drittes Wesen mit ihnen. Er wälzte sich auf sie, und weil er fühlte, daß sie erschrak, wartete er einen Moment, dann schlang sie ihre Beine um seinen Körper, doch er bat um Verzeihung, stand auf, stolperte zum Tisch, taucht die Feder ein und schrieb, ohne Licht zu machen: Summe d. Quadr. d. Differenz wz. beob. u. berechn. -> Min., es war zu wichtig, er durfte es nicht vergessen.“
Weniger die geistigen Errungenschaften spielen hier die Rolle, sondern mehr die absonderlichen Eigenheiten der beiden Genies und ihre Unterschiedlichkeiten. Humboldt und Gauß erscheinen schrullig, fast schon komisch, aber nie lächerlich. Kehlmann hat ihr eine intelligent gesponnene Geschichte geschaffen, hintergründig philosophisch und mit einem Augenzwinkern erzählt – ein empfehlenswerter Brückenschlag von Historie zu Fiktion.
„Er habe schon gehört, daß ein Mann unterwegs sei, der alles wisse.
Humboldt protestierte: Er wisse nichts, aber er habe sein Leben damit hingebracht, diesen Umstand zu ändern, er habe Kenntnisse erworben und die Welt bereist, das sei alles.“